Legasthenie, Scham – und die Kraft des geschriebenen Buchstabens

Es gibt Menschen, die sprechen offen darüber.
Und andere, die jahrelang schweigen – aus Scham, aus Angst, aus dem tiefen Gefühl: Mit mir stimmt etwas nicht.
Legasthenie ist nicht nur eine kleine Schwierigkeit beim Schreiben und Lesen.
Es ist oft ein stilles, schmerzhaftes Erlebnis, das sich tief in das Selbstbild einprägt.

 

Ich erinnere mich an einen Kunden, einen talentierten Tätowierer in seinen Vierzigern.
Er erzählte mir vorsichtig, fast flüsternd, dass er nicht richtig schreiben könne, weil er Legastheniker sei.
Auch das Lesen falle ihm schwer.
Obwohl wir einen sehr lebendigen und freudigen Austausch hatten, spürte ich genau, wie viel Schmerz und Scham in seinen Erzählungen über die Kindheit mitschwang. Er kompensierte vieles mit Rebellion nach außen – doch innerlich blieb eine stille Frage:
Warum fällt es den anderen so leicht, zu schreiben und zu lesen – und mir nicht?
Diese Unsicherheit begleitete ihn lange. Und obwohl er mit seinen Händen wahre Kunstwerke schuf, blieb das geschriebene Wort für ihn wie eine verschlossene Tür.

Wir unterhielten uns über meine Arbeit – über die Buchstaben, die ich unterrichte, und das bewusste Schreiben, das dabei entsteht.
Er war neugierig, wie sich das wohl anfühlt, wenn man sich einem Buchstaben nicht mit Druck, sondern mit Hingabe nähert.

Also gab ich ihm ein paar einfache Übungen – ohne jeden Anspruch auf Perfektion.
Kein Leistungsdruck und keine Korrektur.
Nur die Einladung, einige ausgewählte Buchstaben wie ein Mantra zu wiederholen –
ganz in seinem Tempo, mit Ruhe, mit Gefühl und mit seiner eigenen Handschrift als Wegweiser.

Er schickte mir von Zeit zu Zeit seine Schriftbilder und ich sah, wie sie sich veränderten.
Nicht über Nacht, aber mit jeder Übung sichtbar.
Die Linien wurden klarer, stabiler und ausdrucksstärker.
Mit der Schrift wuchs auch seine innere Haltung.
Er begann, seine Vergangenheit nicht mehr als Defizit zu sehen, sondern als Teil seines Weges.
Diese neue Sicherheit gab ihm Mut – und schließlich die Freiheit, einen völlig neuen Beruf zu wählen.


Was Schrift mit Selbstbild zu tun hat

Handschrift ist ein bildlicher Ausdruck unserer inneren Struktur.
Wenn jemand jahrelang gesagt bekommt: „Du schreibst falsch, das ist unleserlich, du kannst das nicht“ –
dann prägt sich nicht nur der Buchstabe, sondern auch der Gedanke ein: „Ich bin nicht richtig.“

Was beim bewussten Schreiben geschieht, ist kein Zauber, aber ein stiller Neubeginn mit weitreichender Wirkung.
Der Mensch sieht, dass sich etwas verändert.
Nicht durch Zwang, sondern durch seine eigenhändige, wiederholte Bewegung beginnt sich etwas zu verändern.
Mit jeder Übung, die er sich selbst schenkt – diszipliniert, aber mit Gefühl – wächst seine Sicherheit.
Die Ergebnisse bleiben nicht aus:
Jeder Buchstabe wird zu einer stillen Bestätigung:
„Ich kann. Ich darf. Ich bin unterwegs.“


Warum Tippen keine echte Alternative ist

Im Jahr 2025 wird an manchen Schulen diskutiert, ob Schreibschrift abgeschafft werden sollte.
Digitales Tippen sei einfacher, schneller, moderner. Doch genau darin liegt das Problem.

Beim Tippen wird fast nichts im Gehirn verknüpft – jeder Buchstabe liegt gleich da, automatisiert, ohne Eigenbewegung.
Beim handschriftlichen Schreiben dagegen werden mehrere Areale gleichzeitig aktiviert:

Motorik, Emotion, Orientierung, Sprache, Rhythmus, Ausdruck.

 

Viele Lehrer:innen können die Handschrift ihrer Schüler heute kaum noch lesen – nicht, weil die Kinder schlecht schreiben,

sondern weil niemand ihnen mehr zeigt, was Schrift eigentlich ausdrücken kann.
Um zu verstehen, was Schreiben im Gehirn bewirkt, müsste man sich intensiver mit der Thematik beschäftigen.

Doch genau dazu fehlt die Zeit – besonders im Schulalltag, der von vollgepackten Lehrplänen, Erwartungsdruck und ständigen Umstellungen geprägt ist.

So wird Schrift auf das Nötigste reduziert: ein Werkzeug zur Notiz – anstatt ein Ausdruck von Denken, Fühlen und Persönlichkeit zu sein.

 


Schreiben heilt – still, stetig, kraftvoll

Buchstaben sind mehr als nur Form – sie sind Symbole mit Kraft, Würde und Haltung.
Sie laden dich beim Schreiben zur Auseinandersetzung mit dir und deinem höheren Selbst ein.
Und sie können – ganz besonders bei Menschen mit Legasthenie – das Gefühl von Ohnmacht in Selbstwirksamkeit verwandeln.

Es braucht kein perfekt geschriebenes Wort - nur einen Anfang
Und die Bereitschaft, sich selbst wieder zu lesen – Zeile für Zeile.

 

Herzlichen Dank für deine Zeit und dein Interesse.

Marika Jacqueline Mitterhofer

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